Wer eine Website plant, hat meist auch schon von Barrierefreiheit gehört. Möglicherweise haben Sie selbst bereits die Anforderung „barrierefreies System“ gestellt und damit eine Pflichtvorgabe abgehakt? Wir haben des öfteren erlebt, dass diese Vorgabe nicht besonders hoch priorisiert wurde, beispielsweise mit dem Argument „Blinde sind nicht unsere Zielgruppe.“ Kein Scherz.
Zeit, dass wir ein paar Dinge klarstellen, denn zum einen ist Sehbehinderung nur ein zu berücksichtigender Aspekt, zum anderen können alle Menschen vorübergehend von einer Behinderung betroffen sein. Von barrierefreien Webseiten profitieren mehr Menschen als man denkt, und darunter sind garantiert auch Angehörige Ihrer Zielgruppen.
Accessibility, der englische Begriff für Barrierefreiheit, bedeutet wörtlich übersetzt Zugänglichkeit. Darum geht es: die Informationen, die eine Webseite bereitstellt, allen Menschen zugänglich zu machen Und das möglichst von körperlichen oder kognitiven Einschränkungen – oder eben auch unabhängig von Einschränkungen aufgrund des gerade verwendeten Gerätes.
Welche Einschränkungen?
Bei barrierefreien Webseiten oder allgemein barrierefreier Informationstechnik denken die meisten Menschen zunächst an Blinde bzw. stark Sehbehinderte. Dies allein ist bereits eine nicht unerhebliche Gruppe. Laut dem Statistischen Bundesamt sind das allein in Deutschland ca. 350.000 Menschen, denen der Zugang zu Informationen oder zu Konsumartikeln durch schlecht zugängliche Angebote verwehrt wird Mit dem Einzug von Sprachassistenten in die Haushalte wird zudem für eine weitaus größere Gruppe relevant, ob ein Angebot für Sprachausgabe und Sprachbefehle gerüstet ist.
Farbfehlsichtigkeit ist ein anderes Beispiel. Auf der einen Seite ist ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung von Farbfehlsichtigkeiten betroffen. 8% der Männer sind beispielsweise von einer Rot-Grün-Sehschwäche betroffen.
Aber auch das verwendete Gerät kann die Ursache einer Einschränkung sein: E-Book-Reader haben für gewöhnlich ein Graustufendisplay. Viele dieser Geräte verfügen aber auch über einen Webbrowser. Sie persönlich mögen in keinerlei Hinsicht fehlsichtig sein, aber haben Sie schon einmal versucht, im Sonnenschein auf einem Smartphone mit spiegelndem Display die Schärfe Ihres Fotomotivs zu beurteilen? – Eben.
Körperliche Behinderungen müssen nicht permanent sein. Wer schon einmal versucht hat, eine Maus mit der anderen Hand (Rechtshänder mit linken Hand, Linkshänder mit der rechten Hand) zu bedienen, weiß, wie schwierig das sein kann. In Situationen, in denen man gerade diese Hand nicht benutzen kann, kann es sehr hilfreich sein, wenn eine Webseite sich vollständig mit der Tastatur bedienen lässt.
Im Alter lässt bei fast allen Menschen die Sehfähigkeit nach. Für diese Menschen kann es hilfreich sein, wenn sich die Schriftgröße ohne Hilfsmittel durch die entsprechende Funktionalität des Browsers vergrößern lässt, ohne dass es zu Überlappungen kommt oder Inhalte aus dem Sichtbereich hinaus geschoben werden.
Kognitive Einschränkungen haben nicht nur etwas mit mentaler Befähigung zu tun, hier spielt auch die Ablenkung durch die Umgebung eine große Rolle. Haben Sie schon einmal versucht, einen komplizierten Text mit vielen Abkürzungen oder Fachbegriffen im öffentlichen Nahverkehr zu lesen?
Ablenkungen sind überhaupt eine der häufigsten – und am meisten vernachlässigten – Einschränkungen, mit denen es Websitebesucher zu tun haben. Gleichzeitig werden die meisten Websites offenbar (unreflektiert) so erstellt, als würden sie stets mit voller Konzentration bedient und alle Inhalte würden komplett gelesen.
Bei der Barrierefreiheit im Web gilt es also sicherzustellen, dass alle Menschen mit allen geeigneten Geräten Zugang zu den Informationen erhalten können. So gesehen ist zum Beispiel auch die responsive Gestaltung (Anpassung einer Webseite an die Bildschirmgröße) bereits ein Teilaspekt von Barrierefreiheit im Web.
Hilfsmittel
Um Personen mit starken Einschränkungen die Bedienung eines Rechners zu ermöglichen, existiert eine Vielzahl von Hilfsmitteln. Diese werden im IT-Umfeld auch als assistive Technologien bezeichnet. Das bekannteste Beispiel sind Screenreader, die den Inhalt des Bildschirms in Sprache umwandeln.
Es gibt aber noch eine große Anzahl weiterer Hilfsmittel, zum Beispiel Bildschirmlupen zur extremen Vergrößerung des Bildschirminhaltes oder Eingabegeräte die es zum Beispiel erlauben, einen Rechner nur mit den Augen oder mit der Atemluft zu bedienen.
Alle gängigen Betriebssysteme bieten Schnittstellen, über die Anwendungen Informationen für diese assistiven Technologien bereitstellen können. Bei Webanwendungen fehlen diese Informationen. Das W3C hat daher den Standard Accessible Rich Internet Applications (ARIA) entwickelt, der zusätzliche Attribute für HTML definiert, mit denen Webseiten und Anwendungen mit zusätzlichen Attributen angereichert werden können. Diese dienen beispielsweise dazu, ein Modal Layer für Screenreader bedienbar zu machen.
Die gute Nachricht: Es gibt Standards
Welche Anforderungen muss eine Website erfüllen, um barrierefrei zu sein? Die wichtigste Richtlinie zur Barrierefreiheit im Web sind die Web Content Accessibility Guideslines (WCAG), die von der Web Accessibility Initiative (WAI) des World Wide Web Consortium (W3C) herausgegeben werden (merken Sie, wie sehr die Fremdwörter und Abkürzungen den Lesefluss stören?) Die WCAG definieren anhand von vier Prinzipien eine Reihe von Richtlinien und Erfolgskriterien für barrierefreie Webseiten:
- wahrnehmbar
- bedienbar
- verständlich
- robust
Zusätzlich zu den WCAG (aktuell in der Version 2.1) veröffentlicht das WCAG zwei weiterführende Dokumente:
- Understanding WCAG 2.1 enthält weiterführende Erläuterungen zu den Erfolgskriterien der WCAG
- Techniques for WCAG 2.1 beschreibt verschiedene Möglichkeiten, wie die einzelnen Erfolgskriterien umgesetzt werden können.
Die EU-Richtlinie 2016/2102 gibt den Mitgliedsstaaten auf, die Websites ihrer öffentlichen Einrichtungen barrierefrei zu gestalten sowie eigene Verordnungen im Sinne einer europaweiten Harmonisierung der Standards anzupassen. In Deutschland gilt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV), die auf den WCAG basiert (aber leider oft auch etwas hinterherhinkt).
Wer erstellt barrierefreie Websites?
Für die Umsetzung einer barrierefreien Webseite sind alle an der Erstellung Beteiligten verantwortlich. Wirklich alle. Hier ein paar Beispiele, worauf die verschiedenen Beteiligten achten sollten:
Redaktion
- Inhalte mit entsprechenden Überschriftsformaten hierarchisch gliedern
- Alternativtexte für Bilder und Beschriftungen
- Aussagekräftige Linkbeschriftungen (statt „Weiterlesen")
- Abkürzungen auflösen, Fachsprache verständlich umschreiben
- Tabellen semantisch aufbauen (z. B. Spaltenüberschriften einfügen statt einfach die erste Zeile fett zu setzen)
- Fremdwörter sprachlich auszeichnen (z. B. Accessibility mit dem Attribut lang=“en“ für die englische Aussprache markieren)
- Abbildungen mit ausreichend Kontrast erstellen (lassen) und Verzicht auf Textgrafiken (oder aber entsprechenden Alternativtext einfügen, siehe oben)
Design
- Flexibles (responsives) Layout, das Vergrößerung von Text und Abbildungen erlaubt
- Farben/Farbkontraste verantwortungsbewusst wählen und testen
- Gut leserliche Schriften wählen
- Darstellung auf verschiedenen Geräten testen
- Überschriftenhierarchie (in Rücksprache mit der Redaktion) so gestalten, dass diese in der Praxis nicht aus Geschmacksgründen zweckentfremdet wird
Content-Management-System
(Entwicklergemeinde)
- Basis-Seitenaufbau mit semantisch korrektem HTML
- Einpflegen von Alternativtext, Beschriftungen, Sprachauszeichnungen in allen Textfeldern ermöglichen (ggf. sogar erzwingen)
- Barrierefreie interaktive Elemente anbieten (z. B. Buttons als Schaltflächen, nicht als „anders gestaltete Links“)
- Das Erstellen barrierefreier Formulare ermöglichen
Entwicklung
(Individualentwicklung für das konkrete Projekt)
- Erweiterungen so konzipieren, dass sie Barrierefreiheitsstandards einhalten
- Bedienoberfläche an das systemweite Bedienkonzept anpassen (beispielsweise Standard-Buttons einbetten anstatt sie im eigenen Code festzuschreiben, so dass Verbesserungen am CMS sich auch hier auswirken)
- Bei der Qualitätssicherung (Tests) darauf drängen, dass auch die Barrierefreiheit getestet wird
Auftraggeber/Qualitätssicherung
- Klarstellen, dass Barrierefreiheit eine Anforderung mit hoher Priorität ist, ggf. auch mit der Bereitschaft, etwas mehr zu zahlen (es wird sich rechnen)
- Kompetenz aufbauen, Beratung einkaufen
- Websites nicht nur professionell erstellen lassen, sondern auch professionell testen lassen
Sie werden sehen: Barrierefreiheit zahlt sich aus. Weniger Beschwerden, weniger Abbrüche, weniger Supportaufwand. Und möglicherweise werden Sie sich darüber freuen, dass auch Blinde zu Ihrer Zielgruppe gehören.
Weiteres vorlesen lassen
Die WAI hat eine Reihe von kurzen Videos (momentan leider nur auf englisch verfügbar) erstellt, die Einblick in verschiedene Perspektiven zur Barrierefreiheit geben. Hier ein Zusammenschnitt – selbstverständlich ist ein Transkript verfügbar. Sie sind übrigens herzlich eingeladen, anderssprachige Transskripte (Untertitel) zu erstellen.